Heroes in Krefeld

Werner Kisters: Positiv verrückt

Werner Kisters, Jahrgang 1925, hat in seinem Leben viel erlebt. Das Lachen ist ihm dabei niemals vergangen.

„Humor ist, wenn man trotzdem lacht.“ Hinter diesem Zitat steckt eine Haltung, von der wir uns gerade in Krisenzeiten eine Scheibe abschneiden können. Werner Kisters, Jahrgang 1925 und ein echtes Original vom Niederrhein, hat ein teils stürmisches Leben hinter sich: Messdiener und Hitlerjunge, Soldat und Kriegsgefangener, Betonbauer und Bauprüfer, Familienvater und Ehemann sind Schlagworte, die kaum ausreichen, um diese Vita zu beschreiben. Wir trafen einen warmherzigen Zeitzeugen, der mit Humor, Ironie und auch Sorge auf die Welt und ihre Menschen blickt. Nach diversen Büchern erscheint nun seine neue Musik-CD mit eigenen Songs und Heimatliedern. Den Erlös will er komplett an das stups Kinder- und Jugendhospiz spenden – dat ist doch keine Frage!

Das Gespräch mit einem fast Hundertjährigen wirft existenzielle Fragen auf: Was zählt eigentlich im Leben eines Menschen? Sind es materielle Dinge, familiäre oder historische Ereignisse, der Job, Freundschaften oder besondere Persönlichkeitsmerkmale? Werner Kisters besticht schon bei der Vorrecherche durch Zahlen: Er ist 98 Jahre alt, verbrachte 65 glückliche Ehejahre mit Gattin Josefine, seine Familie umfasst fünf Kinder, 15 Enkel und acht Urenkel. „Dat muss mir erst einmal einer nachmachen“, sagt er in einem YouTube-Video. Der Urkrefelder aus Dießem schrieb im Ruhestand mehrere Bücher und nahm vor fünf Jahren seine allererste CD auf. Jetzt legt er das vierte Werk mit dem Titel „Träume 100“ vor, auf dem Cover blickt er – ausgestattet mit Schlapphut, Karnevalsorden und Mundharmonika – selbstbewusst in die Kamera. „Dat ist die beste von allen“, teilt er vorab am Mobiltelefon mit und lobt den Musikproduzenten Michael Weirauch, mit dem er das Album eingesungen hat: „Der hat dat wunderbar gemacht. Schreibense den Namen ruhig auf, der hat dat verdient, wenn er erwähnt wird!“ Auch dass er kein Geld dafür wolle und alle Einnahmen für die „stups-Kinder“ bestimmt seien, prägt das Bild eines einfachen Mannes, der ein großes Herz besitzt und sich selbst nicht so wichtig nimmt.

Doch erst die persönliche Begegnung mit dem niederrheinischen Original enthüllt, was für ein beeindruckender Mensch im Sessel neben uns sitzt. In breitestem Plattdeutsch erzählt er Dönekes aus Krefeld, und wenn Werner Kisters lacht, was häufig passiert, geht sprichwörtlich die Sonne auf. Dieses Lachen kommt aus tiefstem Herzen und berührt sehr, weil schwere Schicksalsschläge wie Missbrauch, Krieg und Tod hinter ihm liegen, die er in seinen autobiografischen Büchern und CDs verarbeitet. Seine Erlebnisse und Gefühle kann er am besten in Schriftform oder musikalisch ausdrücken, im Interview brummt er eher oder findet nur knappe Worte wie „schlimm“, wenn es um die Kriegsjahre geht. Es ist ein Leben voller Höhen, Tiefen und vor allem Gegensätze. Während seine Eltern in den Dreißigerjahren bereits von schwierigen Zeiten und düsteren Ausblicken sprachen, erinnert sich Werner an eine stets warme Stube, genug zu essen und grenzenlose Freiheit. „Die Oberdießemer Straße war damals für uns Kinder ein Paradies“, schwärmt er in seinem Buch „Einer vom Jahrgang 25“. Nur wenige Motorfahrzeuge und Pferdefuhrwerke sind auf den Straßen, die Luft ist sauber, überall spielen Kinder mit Murmeln oder Kreisel. Noch geht es idyllisch zu, aber Krawalle zwischen Kommunisten und Nazis lassen erahnen, dass sich die Zeiten ändern werden.

„Dat is die beste!“: Werner Kisters‘ aktuelle CD.

Als HJ-Führer Müller plötzlich in der Familienwohnung auftaucht, wird der junge Messdiener unfreiwillig zum Pimpf und trägt ab sofort Braunhemd: „Trotz meiner manchmal geschwollenen Brust hat mir der HJ-Dienst keinen Spaß gemacht“, taucht er heute versonnen in die Vergangenheit ein. „Dieses ständige Marschieren, Kommandieren und großkotzige Führergehabe mochte ich nicht. Da lobte ich mir doch ein Fußballspiel, wo man genau wusste, wofür man kämpft.“ Der eher ungeliebten Volkschule folgt 1940 ebenso widerwillig eine kaufmännische Lehre. Der sportliche 14-Jährige, der sich laut Arbeitsamt besser für einen Handwerksberuf eigne, soll es nach dem Willen der Mutter einmal besser haben: „Du wirst Kommis. Da machst du dich nicht schmutzig, guck dir nur deinen Vater an, wat dä für dreckige Pluten aanhäät!“ Der gehorsame Sohn zieht die Ausbildung zum Kaufmanns-Gehilfen durch, auch wenn er rasch merkt, „auf dem falschen Dampfer“ zu sein. Um die Lehrzeit abzukürzen, meldet er sich mit 16 Jahren freiwillig zur Luftwaffe – und erlebt als einfacher Gefreiter und Bordfunker der Fallschirmjäger-Regimenter 11 und 30 den Krieg in den Schützenlöchern von Frankreich, Italien und Österreich.

Auch mit beinahe 100 Jahren sitzt der Senior noch fast täglich an seiner Schreibmaschine.

„Der Humor hat mich immer hochgehalten, schon als Kind wollte ich die Jungens op dä Dießem zum Lachen bringen. Die vier Jahre fern der Heimat, als Soldat und Kriegsgefangener in Stalingrad waren dagegen kein Spaß“, bemerkt er sachlich und reicht maschinenbeschriebene Blätter über den Tisch. In diesem Bericht hat er neben erstaunlich detailreichen Erinnerungen auch bedrückende Gedanken zur Zukunft der Menschheit festgehalten. Der Ukraine-Krieg beschäftigt den Veteranen sehr, Nachrichten empfindet er als „grausam“. „Eigentlich braucht man keine Zeitzeugen mehr“, sagt er nachdenklich. „Man sieht ja täglich im Fernsehen, wie ein Krieg vieles zerstört.“ Auf der anderen Seite will er seine Geschichte unbedingt erzählen und weiß genau, wie er abgebildet werden möchte. Das Fotoshooting bereitet ihm sichtlich Spaß. Laut Duden ist Humor die Fähigkeit und Bereitschaft, auf die Unzulänglichkeiten der Welt heiter und gelassen zu reagieren. Für Werner Kisters ist er lebenswichtig. Nach der Rückkehr aus Stalingrad in die Trümmer seiner Heimatstadt – er selbst traumatisiert, abgemagert und malariakrank – habe er in voller Lautstärke Karnevalslieder gehört, um sich zu trösten. Spontan gibt er einen Lieblingswitz zum Besten: „Ich habe mir gestern einen Witz erzählt, den kannte ich noch gar nicht!“ Der Kontrast könnte nicht größer sein.

Mundharmonikas spielten in Kisters‘ langem Leben stets eine bedeutende Rolle.

Es klingelt an der Tür, erfreut begrüßt der Senior seine Putzfrau Natalie. „Dat ist meine russische Freundin“, scherzt er mit leuchtenden Augen, nicht ohne eine dicke Umarmung einzufordern, bevor sie wieder geht. Nach dem Tod von Ehefrau Josefine und Sohn Klaus – „im gleichen Jahr, dat musste dir vorstellen“ – zog Werner vor gut einem Jahrzehnt in diese Seniorenwohnung. Hier erinnern gerahmte Fotos und Nippes an fast 70 gemeinsame Jahre mit seiner großen Liebe. „Ich traf sie im Sommer 1947 nur wenige Tage nach meiner Heimkehr. Mit ihrer fröhlichen Zufriedenheit kam sie mir vor wie von einer anderen, mir fremd gewordenen Welt. Josefine war eine Seele von Mensch.“ Er schweigt eine Weile vor sich hin, bevor er uns in den Nebenraum führt und seine kleine Sammlung von Mundharmonikas präsentiert. Nach einer langen Trauerphase könne er inzwischen wieder alte Volksweisen spielen, und dank Sozialpädagogin Ramona Klar und „der Frau Püschologin“ auch sehnsuchtsvolle Liebeslieder. Die kleine Kostprobe im Wohnzimmer beweist nicht nur, dass er mit 98 noch über genug Puste verfügt, seine Freude an der Musik ist mit den Händen greifbar. Das Instrument spiele eine große Rolle in seinem Leben, erzählt er mehrfach: „1933 lag die erste Mundharmonika unter dem Weihnachtsbaum, eine Hohner. Mit 17 Jahren nahm ich sie mit im Soldatengepäck, spielte an Weihnachten ‚Stille Nacht‘, bis sie auf dem Marsch nach Osten verloren ging.“ Ein betrunkener russischer Soldat habe sie ihm am 13. Mai 1945 in der Nähe von Linz an der Donau entrissen. Das Grauen im Lager erwähnt er nicht.

Trotz aller Widrigkeiten und Widersprüche ist Werner Kisters eine rheinische Frohnatur geblieben, die sich selbst als „positiv verrückt“ bezeichnet. Und wahrscheinlich ist es genau diese Eigenschaft, die – neben guten Genen – sein hohes Alter erklärt. Auch wenn im Gespräch vieles ungesagt blieb: Mit seinen humorvollen Werken ruft uns der 98-Jährige ins Gedächtnis, wie wichtig es ist, im Leben nie aufzugeben und weiterzumachen. Denn auch schöne Momente gibt es genug. Wer bei ihm eine CD kauft oder direkt ans stups spendet, macht die Welt gleich ein bisschen besser. Und unterstützt damit kleine wie große Helden.

Die neue CD von Werner Kisters kann direkt bei ihm bestellt werden unter 0151-59470537.

Spendenkonto: DRK-Schwesternschaft Krefeld e.V.
BIC: GENODED1HTK
IBAN: DE92 3206 0362 0000 0543 21
Kennwort: stups


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Fotos: Felix Burandt Grafik: Michael Strogies
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